In der Rückschau liegt oft mehr Wahrheit als in der Stunde der Entscheidung. Die Corona-Pandemie hat das Land auf eine harte Probe gestellt. Politik, Verwaltung, Gesundheitswesen und Gesellschaft standen unter einem Druck, wie ihn viele seit Kriegsende nicht erlebt haben. Entscheidungen mussten schnell getroffen werden, oft ohne belastbare Datenlage. Das war nachvollziehbar und unter den Bedingungen der ersten Wochen auch richtig. Doch es bleibt nicht bei der Frage, wie Politik im Krisenmodus gehandelt hat. Entscheidend ist, wie sie im Nachhinein mit ihrem eigenen Handeln umgeht.
Was wir derzeit erleben, ist ein kollektives Schweigen. Wer öffentlich über Fehler der Corona-Politik spricht, wird allzu oft in eine Ecke gedrängt. Dabei geht es nicht um Schuldzuweisungen. Es geht um Verantwortung. Eine Demokratie, die ihre Fehler nicht anerkennt, verliert langfristig an Glaubwürdigkeit. Gerade in Niedersachsen, wo sich viele Bürgerinnen und Bürger bis heute mit gemischten Gefühlen an Lockdown, Schulschließungen, Impfdebatten und Besuchsverboten erinnern, wächst das Bedürfnis nach Aufklärung.
Niemand verlangt, dass Entscheidungen unter Zeitdruck fehlerfrei ablaufen. Aber es ist zu viel verlangt, zu akzeptieren, dass Fehler nachträglich nicht benannt und analysiert werden dürfen. Ausgangssperren, die wenig zur Eindämmung beigetragen haben. Schulschließungen, deren Folgen bis heute sichtbar sind. Isolation in Pflegeheimen, die alten Menschen nicht Schutz, sondern Einsamkeit gebracht hat. All das sind keine Randnotizen, sondern Erfahrungen, die tiefe Spuren hinterlassen haben.
Die Politik hat damals auf Sicht gefahren. Das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass sie sich weigert, den Rückspiegel zu benutzen. Es gibt keine parlamentarische Kommission, die unabhängig prüft, was gut war und was nicht. Es gibt keine übergreifende Analyse, die den Blick auf medizinische, rechtliche, soziale und ethische Aspekte bündelt. Es gibt keine erkennbare Strategie, wie wir es beim nächsten Mal besser machen wollen. Und es gibt keine politische Kraft im Landtag, die dieses Thema mit Nachdruck auf die Agenda setzt.
Dabei wäre eine Enquete-Kommission längst überfällig. Eine solche Kommission könnte unabhängig untersuchen, was während der Pandemie funktioniert hat – und was eben nicht. Sie könnte Empfehlungen erarbeiten, wie Pandemien künftig mit weniger Belastung für Freiheit, Bildung und gesellschaftlichen Zusammenhalt bewältigt werden können. Es braucht kein Tribunal. Es braucht keine Rücktritte. Aber es braucht Ehrlichkeit.
Ein modernes Pandemiegesetz gehört auf den Prüfstand. Nicht um es im Ganzen zu verwerfen, sondern um es besser zu machen. In einem freiheitlichen Staat dürfen Grundrechte nicht durch Erlasspolitik ausgehebelt werden. Eingriffe müssen auf klaren, nachvollziehbaren Kriterien beruhen. Sie müssen befristet sein, überprüfbar und verhältnismäßig. Das ist keine Frage von Ideologie, sondern von demokratischer Hygiene.
Viele Menschen in Niedersachsen haben sich während der Pandemie solidarisch verhalten. Sie haben Einschränkungen akzeptiert, Masken getragen, auf Kontakte verzichtet. Nicht, weil sie blind vertraut haben, sondern weil sie Verantwortung übernommen haben. Diese Menschen haben ein Recht auf Aufarbeitung. Ein Recht auf Antworten. Ein Recht auf Verbesserungen für die Zukunft. Wer heute so tut, als sei alles gut gelaufen, der ignoriert nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern auch die Lebenserfahrung von Millionen Menschen.
Auch auf kommunaler Ebene sind Versäumnisse sichtbar geworden. Schulträger, die keine digitalen Strukturen hatten. Gesundheitsämter, die überfordert waren. Pflegeeinrichtungen, die allein gelassen wurden. Wenn wir die Lehren aus Corona ernst nehmen, müssen wir unsere Verwaltungen modernisieren, Entscheidungsprozesse transparenter machen und dafür sorgen, das im Krisenfall nicht wieder Symbolpolitik über Handlungsfähigkeit siegt.
Es geht nicht um ein Zurückdrehen der Zeit. Es geht um Vorbereitung auf das, was wiederkommen kann. Die nächste Pandemie wird nicht auf uns warten. Und sie wird kein Verständnis dafür haben, wenn wir unsere Hausaufgaben nicht gemacht haben. Deshalb ist jetzt die Zeit, die Lehren zu ziehen. Gründlich. Sachlich. Unabhängig. Und mit dem festen Willen, das Vertrauen in unseren Rechtsstaat zu stärken.
Wer Freiheit bewahren will, muss bereit sein, sich auch selbst zu prüfen. Wer Verantwortung ernst nimmt, darf sich der Debatte nicht entziehen. Und wer das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zurückgewinnen will, muss Transparenz schaffen, bevor die Erinnerung verblasst.
Corona war mehr als eine Gesundheitskrise. Es war ein Stresstest für unsere Demokratie. Ob wir daraus lernen, entscheidet sich nicht in Sonntagsreden, sondern in der Bereitschaft zur ehrlichen Aufarbeitung. Deshalb gilt: Nicht später. Nicht halbherzig. Sondern jetzt.