Margot Friedländer ist im Alter von 103 Jahren in Berlin verstorben. Sie überlebte das Konzentrationslager Theresienstadt, sie überlebte den Holocaust. Doch sie verstand ihr Leben nicht als eine Geschichte der Angst, sondern der Ermutigung. Mit klaren Worten, fester Stimme und einem klugen Blick forderte sie uns auf: „Tut etwas!“ Damit war sie vielen jungen Menschen näher als mancher ihrer Zeitgenossen.
Sie war eine Jüdin aus Berlin, Tochter einer Familie, die als deutsch und bürgerlich galt, bis das deutsche Volk sich anders entschied. Die Mutter wurde deportiert, der Bruder gleich mit. Margot Friedländer tauchte unter, floh durch die Stadt, wurde verraten und schließlich ins KZ Theresienstadt gebracht. Sie überlebte. Und sie kam zurück.
Nach dem Krieg wanderte sie in die USA aus, heiratete und schwieg. Erst nach dem Tod ihres Mannes begann sie, ihre Geschichte aufzuschreiben. Es wurde ein Bestseller, aber wichtiger war ihr die Begegnung mit den Menschen. Ab 2003 kam sie regelmäßig nach Deutschland. Sie sprach mit Schülerinnen, Studenten, Auszubildenden, Soldaten, Lehrkräften, Politikern. Wer ihr begegnete, vergaß das nicht. Nicht weil sie Anklage erhob, sondern weil sie Hoffnung schenkte. Weil sie sagte, dass wir Verantwortung tragen – ich für das, was war, sondern dafür, dass es nie wieder geschieht.
2010 kehrte sie dauerhaft nach Berlin zurück. Aus Überzeugung. Weil sie glaubte, dass das Land sich verändert hat. Und weil sie wusste, dass Erinnerung kein Zustand ist, sondern eine Aufgabe. Für ihren Mut, ihre Würde und ihre Stimme wurde sie vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz. Aber wichtiger war ihr das Gespräch – gerade mit den Jungen. Denn sie sagte oft: „Ihr seid nicht schuld. Aber ihr seid verantwortlich.“
Diese Klarheit hat uns gutgetan. In einer Zeit, in der Geschichte oft auf Schlagworte reduziert wird. In der viele lieber verdrängen oder vergessen wollen Margot Friedländer war unbequem, aber nicht verletzend. Sie war eindringlich, aber nie verbittert. Sie war Mahnerin, ohne zu belehren. Und sie war frei von ideologischer Vereinnahmung. Vielleicht machte sie gerade das so glaubwürdig.
Heute reden viele über Erinnerungskultur. Margot Friedländer hat sie gelebt. Und sie hat deutlich gemacht: Demokratie ist kein Erbe, das man bloß verwaltet. Sondern ein Auftrag. Für jeden von uns. Jeden Tag.
Es mag Stimmen geben, die ihre Mahnungen nicht mehr hören wollen. Oder die sagen, jetzt sei auch mal gut. Wer so redet, hat nichts verstanden. Denn wenn Margot Friedländer in Schulklassen sprach, geschah etwas Besonderes. Dann wurde Geschichte lebendig. Dann wird aus einem Datum ein Gesicht. Und aus Verantwortung eine persönliche Haltung.
Mit dem Tod von Margot Friedländer verlieren wir eine der letzten Zeitzeuginnen des Holocaust. Aber wir verlieren mehr als das: eine Frau mit Charakter, mit Haltung, mit Glauben an das Gute. Sie war eine Bürgerin im besten Sinne. Und ein Vorbild dafür, was Versöhnung bedeuten kann – ohne zu vergessen.
Sie ist gestorben. Aber ihre Stimme bleibt. Die Frage ist: Hören wir ihr weiter zu?