Kevin Kühnert hat sich zurückgezogen. Nicht, weil er keine Lust mehr hatte auf politische Arbeit, Kompromisse oder Wahlkampf. Sondern weil die Bedrohungen zu viel wurden. Angriffe, Einschüchterungen, Sicherheitsbedenken – ein Maß, das mit demokratischem Engagement nicht mehr zu vereinbaren ist. Das war keine politische Entscheidung. Es war eine gesellschaftliche. Und sie sollte uns wachrütteln.
Ich bin selbst politisch aktiv – kommunal, ehrenamtlich, ohne Mandat. Ich nehme an Vorstandssitzungen teil, helfe beim Plakatieren, rede mit Leuten am Infostand oder auf Veranstaltungen. Ich bekomme Mails, auch zu später Stunde, und unterstütze, wo ich kann – ob bei Vereinsfesten oder in Bürgergesprächen. Bisher bin ich verschont geblieben. Kein Hassbrief. Keine Bedrohung. Keine Beleidigungen am Telefon. Aber ich kenne Menschen, denen es anders geht. Und ich merke, wie sich der Ton verändert hat. Aus Kritik wird Feindseligkeit. Aus Unzufriedenheit wird Aggression. Und der Schritt zur Gewalt ist kleiner, als man denkt.
Wie konnte es so weit kommen?
Die Schuld nur bei „den anderen“ zu suchen – bei Extremisten, Internethetzern oder Wutbürgern – greift zu kurz. Wir alle tragen Verantwortung für das gesellschaftliche Klima. Wer Politiker grundsätzlich verächtlich macht, darf sich nicht wundern, wenn einer mit der Faust nachhilft. Wer jede Entscheidung als Verrat am Volk darstellt, trägt zur Vergiftung der Debatte bei. Wer Institutionen, Rechtsstaat und Verfahren pauschal diskreditiert, legt das Fundament für Misstrauen – und irgendwann für Hass.
Politisches Engagement heißt nicht: Applaus ernten. Es heißt: Verantwortung übernehmen. Entscheidungen treffen. Kritik aushalten. Und Kompromisse machen. Niemand tut sich das an, um sich beliebt zu machen. Sondern weil man etwas verändern will. Weil Meckern allein nichts bringt. Wer das mit Gewalt beantwortet, stellt nicht nur das Ehrenamt infrage – sondern die Grundlagen unserer Demokratie.
Warum dulden wir das?
Vielleicht, weil wir zu oft weggesehen haben. Weil wir dachten, „so schlimm wird’s schon nicht“. Aber Gewalt – verbal, körperlich, strukturell – ist kein Kavaliersdelikt. Sie ist Gift für das gesellschaftliche Miteinander. Und sie bestärkt genau die, die mit Einschüchterung ihre Ziele durchsetzen wollen.
Die Spirale ist gefährlich. Immer mehr ziehen sich zurück. Immer weniger wollen sich einbringen – sei es in der Politik, im Verein oder im Ehrenamt. Wer möchte schon Verantwortung übernehmen, wenn man Angst um die eigene Familie haben muss? Wenn der eigene Name in Chatgruppen auftaucht? Wenn man beleidigt oder bedroht wird, nur weil man sich für Verkehrssicherheit oder saubere Spielplätze einsetzt? Das ist keine Theorie – das passiert. Nicht nur in Berlin. Auch bei uns im Ort.
Ich frage mich: Wie konnte Politik zur Mutprobe werden? Wann haben wir akzeptiert, dass Menschen, die sich einbringen, angefeindet werden? Warum ist sachliche Auseinandersetzung so schwer geworden?
Vielleicht brauchen wir wieder mehr Respekt. Mehr Gespräch. Und weniger Empörung. Es muss möglich sein, unterschiedlicher Meinung zu sein, ohne sich gegenseitig zu bekämpfen. Demokratie lebt vom Streit – aber nicht vom Hass.
Der Rückzug von Kevin Kühnert ist kein Einzelfall. Es sind viele, die sagen: Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Wenn wir das hinnehmen, wird es gefährlich. Denn dann bleiben nicht die Besten – sondern die Lautesten.
Jetzt ist der Moment, Haltung zu zeigen. Gegen Einschüchterung. Gegen Gewalt. Für ein Miteinander, in dem Engagement nicht zur Gefahr wird. Es geht nicht darum, Politiker zu bemitleiden. Sondern darum, unsere Demokratie zu schützen. Vor ihren Feinden – und vor unserer eigenen Gleichgültigkeit.