Alle Jahre wieder beginnt im Sommer nicht nur die Reisezeit, sondern auch die Diskussion über den Ferienstart in den Bundesländern. Dann wird verglichen, gestritten, beschwichtigt. Verkehrsminister denken an die Staus auf den Autobahnen, Tourismusverbände an ihre Buchungslage. Und Eltern fragen sich, wie sie die Betreuung ihrer Kinder in der schulfreien Zeit überhaupt stemmen sollen. Die eigentliche Frage stellt dabei kaum jemand: Ist das Modell der Schulferien in seiner bisherigen Form überhaupt noch zeitgemäß?
Was viele nicht auf dem Schirm haben: Je nach Bundesland haben Kinder zwischen 15 und 17 Wochen im Jahr unterrichtsfrei (Ferien, gesetzliche Feiertage, Brückentage, Fortbildungstage der Lehrkräfte, etc.). Das entspricht fast ein Drittel des Jahres. Für berufstätige Eltern, die im Schnitt rund 30 Tage Urlaub im Jahr haben, ist das eine enorme Herausforderung. Wer nicht auf Großeltern, Bekannte oder kostenpflichtige Ferien- und Betreuungsprogramme zurückgreifen kann, gerät schnell an seine Grenzen. Besonders dann, wenn beide Eltern arbeiten. Was dann folgt, ist ein Puzzle aus Urlaubstagen, Notlösungen und oft genug der Verzicht auf gemeinsame Familienzeit. Der eine Partner übernimmt die erste Hälfte der Ferien, der andere die zweite. Gemeinsam wegfahren wird zur Ausnahme.
Man kann natürlich einwenden, dass Ferien auch Erholung und Freiraum für Kinder bedeuten. Das stimmt. Nur stellt sich die Frage, ob ein Dritteljahr Freizeit wirklich notwendig ist. Und ob Kinder aus bildungsferneren Haushalten diese Zeit tatsächlich als Entwicklungschance nutzen oder nicht vielmehr den Anschluss verlieren. Es ist kein Geheimnis, dass die Lernrückstände nach Corona in vielen Jahrgängen bis heute nicht aufgeholt wurden. Trotzdem halten wir an einem Modell fest, das vor allem eines ist: historisch gewachsen, aber nicht mehr auf der Höhe der Zeit.
Denn ursprünglich hatten die Sommerferien auch einen ganz praktischen Grund. In der Landwirtschaft wurden in der Erntezeit viele helfende Hände gebraucht. Die Kinder waren Teil der Arbeitskraft auf dem Feld. Diese Realität ist vorbei. Heute prägt ein anderer Alltag das Leben junger Familien: Pendelzeiten, Arbeitsverdichtung, Schichtdienste, Ganztagsbetreuung, Alleinerziehende. In all diesen Konstellationen passt das klassische Ferienmodell nicht mehr.
Ein interessanter Gegenentwurf kommt aus Dresden. Dort arbeitet die Universitätsschule mit einem flexibleren Ansatz. Statt fester Ferienblöcke stehen den Schülerinnen und Schülern 40 Urlaubstage im Jahr zu, die individuell genommen werden können. Unterricht findet projektorientiert statt, nicht im klassischen Frontalunterricht. Ob das der richtige Weg ist, darüber kann man sicher streiten. Aber der Ansatz verdient Aufmerksamkeit. Denn er erkennt an, dass Lebensrealitäten heute vielfältiger sind als früher und Schule sich daran orientieren muss, wenn sie ihren gesellschaftlichen Auftrag ernst nimmt.
Natürlich lässt sich so ein Modell nicht ohne Weiteres auf ganz Deutschland übertragen. Aber es zeigt: Es geht auch anders. Wer die Ferien neu denkt, muss auch das Lernen neu denken. Und wer beides miteinander in Beziehung setzt, erkennt schnell, dass unsere Strukturen aus der Zeit gefallen sind. Das betrifft nicht nur die Dauer der Ferien, sondern auch deren Verteilung. Warum gibt es eigentlich sechs Wochen Sommerferien, aber nur zwei zu Weihnachten? Warum ist der Ferienbeginn in den Bundesländern so starr geregelt, obwohl viele Familien längst über die Landesgrenzen hinweg leben und arbeiten?
In einer mobilen Gesellschaft braucht es mehr Flexibilität, nicht weniger. Und in einer Bildungslandschaft, in der immer häufiger über Leistungsabfall, Konzentrationsprobleme und fehlende Grundkenntnisse geklagt wird, darf man die Frage stellen, ob fast vier Monate schulfreie Zeit im Jahr wirklich sinnvoll sind. Man kann über neue Modelle sprechen, die Ferienzeit entzerren, kürzen oder individueller gestalten. Man kann über Projekte nachdenken, die Freizeit mit Lernimpulsen verknüpfen, ohne gleich die komplette Sommerpause abzuschaffen. Aber man sollte vor allem aufhören, am bestehende Modell zu kleben, nur weil es eben immer so war.
Ich schreibe diesen Beitrag nicht aus der Perspektive eines Schulreformators, sondern als Bürger, Vater und Kommunalpolitiker, der sieht, was Familien im Alltag leisten müssen. Gerade im ländlichen Raum fehlen oft die Strukturen, um die langen Ferienzeiten sinnvoll zu überbrücken. Ferienbetreuung ist begrenzt, private Hilfen sind nicht überall vorhanden, und viele Arbeitgeber können kaum auf die individuellen Nöte von Eltern eingehen. Es gibt keine einfache Lösung, das ist mir bewusst. Aber es gibt ein einfaches Problem: Unser Ferienmodell passt nicht mehr zur Lebenswirklichkeit. Und das gehört auf den Tisch.
Statt immer nur die Startzeiten der Sommerferien zu verhandeln, sollten Bund und Länder endlich den Mut haben, über das gesamte System zu sprechen. Das ist keine ideologische Frage, sondern eine praktische. Wer Vereinbarkeit von Familie und Beruf ernst nimmt, muss auch den Alltag von Familien ernst nehmen. Wer Bildungsgerechtigkeit will, darf sich nicht damit zufriedengeben, dass die Kinder mit dem meisten Förderbedarf auch die längsten Auszeiten vom Lernen haben. Und wer das Land modernisieren will, muss irgendwann auch bei der Schulorganisation anfangen. Dazu gehört, alte Zöpfe abzuschneiden, selbst wenn es unbequem ist.
Vielleicht brauchen wir nicht weniger Ferien, sondern klüger verteilte. Vielleicht brauchen wir weniger Schulstunden, aber mehr Zeit für projektbezogenes Arbeiten. Vielleicht brauchen wir nicht die ganz große Reform, sondern viele kleine Anpassungen. Aber was wir ganz sicher brauchen, ist der Wille, das System nicht als selbstverständlich hinzunehmen. Denn Schule ist kein Selbstzweck. Sie soll auf das Leben vorbereiten. Und das Leben hat sich verändert.
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